Der elfte Finger (Textauszug)
Seine Form war Logik, aber sein Wesen war Verwirrung.
Es ist die Rede von einem charismatisch vollbärtigen Hünen, einem Koloss von Mann. Von Statur aus breitschultrig und massig, gleich der Verkörperung eines Oligarchen. Er trug stets einen schweren Pelz, der ihm bis zu den Füßen reichte und ihm gut zu Gesicht stand. In seiner Rhetorik schwang eine besonders bedächtige Ruhe mit, die seinen Aussagen ein gewisses Gewicht verlieh. Seine Bewegungen waren ebenso entschlossen wie behäbig. Er war unbestreitbar ein Mann von Format und doch fehlte es ihm an etwas, das zu beschreiben einem Wagnis gleicht.
Es fing mit seinem Bedürfnis an, alles in greifbarer Nähe haben zu wollen und es missfiel ihm zutiefst, wenn er nicht alles auf Anhieb zur Hand hatte, dass er zu benötigen gedachte. Eine Schmach, die ihm zuteilwurde, ereignete sich beim Kredenzen von Wein. Er hatte gerade weiblichen Besuch zu Gast und griff nach einer Flasche Barolo Nebbiolo. Doch war das Fach, in dem der Wein lagerte, zu hoch und so war er gezwungen, einen Barbera d’Alba, der nicht das reiche Bouquet eines Barolos hatte, aus einem der unteren Fächer des Regals zu nehmen. Die Dame war von dem Wein mittlerer Qualität nicht minder angetan, doch verlief die Zusammenkunft nicht so wie er es sich erhofft hatte.
Damit sich solch ein Fauxpas nicht wieder ereigne, ließ er sich kurzer Hand beide Arme und Beine brechen, diese mit Abstand sowie mit einigen Schrauben versehen, wieder fixieren und somit verlängern. Mitnichten genügten ihm die verlängerten Glieder und ihn beschlich eine unstatthafte, gar in hohem Maße lasterhafte Sehnsucht. Nichts Mystisches oder Okkultes hatte es mit dieser Sehnsucht . . .
Christian Patruno wurde 1977 in Mannheim geboren. Nach seinem Diplom an der Freien Kunstakademie in Mannheim im Jahre 2006, lässt er sich aktuell an der staatlichen Kunstakademie in Karlsruhe ausbilden. |